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Sonntag, 18. Mai 2014

Alles neu macht der Mai





So lautet der erste Vers mit dem gleichnamigen Gedicht von Hermann Adam von Kamp. Am letzten Apriltag spukte dieser Satz in meinem Kopf. Da stimmt doch was nicht! Alles neu macht der Mai. Der Mai kann doch aktiv gar nichts machen. Menschen können etwas machen aber nicht ein Monat. Der Dezember macht keinen Schnee und eine Schwalbe macht keinen Sommer. Außerdem soll der Monat Mai die Fähigkeit besitzen, gleich alles neu zu machen. Alle Achtung! Was wir dem Mai da so alles zutrauen!
Der Hintergrund des Gedichtes ist sicherlich verständlich. Der Frühling ist endgültig und unwiderruflich da. Die Schwelle des Winters ist unwiderruflich überschritten. Der Sommer steht vor der Tür. Das knospende und neu erblühende Leben ist sichtbar und spürbar erwacht und lässt dich staunen.
Das hätten wir also geklärt, dass der Mai nicht alles neu macht. Dennoch liegt eine Verlockung und eine Idee in dem Vers, sonst wäre er nicht bei mir kleben geblieben.  Im Augenblick betrachte ich meine „Besitztümer“.  Das Auto stammt aus dem Baujahr 1999, die Waschmaschine hat mehr als 20 Jahre auf dem Buckel und verweigert das automatische Schleuderprogramm. Mein Netbook mit Windows XP hat seinen Geist aufgegeben und die Stühle um den Esszimmertisch gehen aus dem Leim.
Da wünsche ich mir einen Zauberer, der mit den Fingern schnippt und sagt: „Abrakadabra, alles neu.“ Leider funktioniert das nicht und ich muss andere Wege finden, die defekten Dinge zu ersetzen. Umgekehrt kenne ich aber auch das Staunen, wenn mir eine Freundin die Küche zeigt mit dem Kommentar: „Alles neu!“ Die Geräte sind noch voll funktionstüchtig. Es gibt keine Macken und Schrammen. Wir erhoffen uns von jedem Gerät, dass es ohne jede Beeinträchtigung zu hundert Prozent zu unserer Verfügung steht.  Schon nach kurzer Zeit stellst du jedoch fest: Die erste Macke und die ersten kleinen Defekte stellen sich ein. Das ist bei den Gebrauchsgegenständen auch ganz normal so und wenn du genügend Geld hast, dann tauschst du halt aus.
Ich möchte aber gerne noch einen Schritt weiterdenken in Richtung unserer menschlichen Beziehungen. Du lernst jemanden kennen und findest ihn oder sie nett. Du knüpfst Kontakt und erlebst die Beziehung als neu, erfrischend, bereichernd, wohltuend... und wünschst dir mehr davon. Der Kontakt wird intensiver und tiefer. Es geht etwas Zeit ins Land und irgendwann tritt es unweigerlich ein: Du enttäuschst oder wirst enttäuscht. Erwartungen werden nicht erfüllt, du bist gekränkt, du verletzt und merkst es vielleicht gar nicht. Du wirst verletzt, die Beziehung stagniert und du kannst nicht über deinen Schatten springen. Es droht der Stillstand oder das Ende. Leider kannst du wieder nicht mit den Fingern schnippen und sagen: „Alles neu!“ Deine Geschichte bleibt deine Geschichte. Die Erlebnisse kannst du nicht auslöschen! Du kannst dich aussprechen, versöhnen, vergeben, neu beginnen. Die Narbe bleibt. Alle Narben im Leben bleiben. Du kannst dein Leben nicht auswechseln wie ein Auto oder eine Waschmaschine. Du entwickelst dich eher wie ein antikes Möbelstück. Du polierst mal wieder, reparierst,  machst eine Generalüberholung, fügst etwas hinzu und entfernst etwas. Deine Grundsubstanz bleibt. Du kannst lernen, mit Verletzungen und Narben versöhnlich umzugehen, so dass du dir sagen kannst: „Ja, es geht ganz gut so!“  Deine Erfahrungen dienen dir letztlich dazu, menschlich zu reifen. Wachsen wirst du nur mit deinen sogenannten Fehlern.
Auch wenn du negative Erlebnisse nicht wegwischen kannst gibt es vielleicht doch den verborgenen Wunsch, einmal noch mal von vorne zu beginnen. Du wünschst dir die Möglichkeit, deine Geschichte neu zu schreiben. Deine verkorksten Anteile, die dich verfolgen wären dann einfach nicht mehr da.
Da lese ich in der Bibel beim Propheten Jesaja (43,19) den Vers: „Denkt nicht mehr an das, was früher war, auf das, was vergangen ist, sollt ihr nicht achten. Seht her, nun mache ich etwas Neues.“ Dieser Vers wird aufgegriffen in der Offenbarung des Johannes, wo es heißt: „Der Tod wird nicht mehr sein keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen. Er, der auf dem Thron saß, sprach: Seht, ich mache alles neu.“
Da gibt es jemanden, der einen solch großartigen Satz sagt! Einer, der alles neu macht. Jemand, der mehr ist als der Mai. Jemand, der anders mit der Geschichte umgeht, jemand der in der Lage ist, aus Narben und Wunden etwas Neues zu gestalten. „Siehe, ich mache alles neu.“ Ich gebe diesen Satz bei Google ein und stelle fest: Kein Mensch traut sich das zu, keine Behörde, keine Firma. Niemand behauptet von sich: „Ich mache alles neu!“ Die ersten zehn Seiten finde ich immer die Anspielung auf diese zwei Bibelstellen.
Wenn ich allerdings das Kollektiv eingebe: „Wir machen alles neu“ dann finde ich Bauunternehmer und Renovierungsbetriebe. Aber kein Mensch behauptet das von sich allein, dass er alles neu macht, weder der beste Psychotherapeut noch der Papst.
Es scheint zu den exklusiven Eigenschaften und Fähigkeiten Gottes zu gehören, ein völlig neues Kapitel im Leben aufzuschlagen. Aber auch er wird meine Geschichte nicht wegwischen, sie gehört zum meinem Leben dazu. Dennoch oder zugleich sagt er: „Neben deinen Narben und Wunden, darin und dadurch entsteht etwas, womit du noch nicht gerechnet hast. Dein Leben schreibt ein neues Kapitel, eine ermutigende und überraschende Wendung. Das war noch nicht das Schlusskapitel.“
In eine ähnliche Richtung geht ein Gedanke von Paolo Coelho. In seinem Buch „Die Schriften von Accra“ entwickelt er die Idee, dass du dein Leben so lebst, als sei es dein erster Tag. Ich kannte bislang nur die Version vom letzten Tag. Bei der Vorstellung von der Aufmerksamkeit für den letzten Tag geht es eher darum, angesichts der zeitlichen Begrenzungen sich nur für die wichtigen Dinge im Leben zu entscheiden. Bei der Idee vom ersten Tag geht es um das Erleben des Staunens an sich.
Stell dir einmal vor, du wachst auf und es ist ein jungfräulicher Tag. Du verlässt den Bauch deiner Mutter und alles, was du erlebst ist neu. Jeden Tag! Diese Vorstellung gefällt mir.
Ich lege für einen Moment den Ballast an die Seite und öffne mich mit allen Sinnen für das Wunder des Augenblickes. Der Mai macht zwar nicht alles neu, aber er lädt ein, wieder einmal aufmerksam zu werden für die Kraft des Neubeginns. 

www.matthias-koenning.de

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